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Früher, zu Zeiten der blauen Kachel

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„Zu Zeiten der blauen Kachel?“ fragen Sie?

Nun ja die Frage ist durchaus berechtigt. Aber vielleicht nur bedingt. Wenn Sie so fragen, gehe ich davon aus, dass Sie diese Zeiten nicht kennen.

Gern gebe ich einen kleinen Einblick:

Zu Zeiten der blauen Kachel war alles anders. Vergessen sie die Wirtschaftssysteme die Sie kennen. Vergessen Sie alles, was Sie je über Ökonomie gelesen haben.

Die Zeiten der blauen Kachel sind die Zeiten, in denen Planwirtschaft herrschte. Nein, nicht Planwirtschaft, Planwirtschaft. Das Planen selbst war Hauptbestandteil, die Erfüllung des selbigen war eher zweitrangig.  Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel.

In einer Druckerei werden hochwertige Kalender mit Bildern der Kunstschätze eines hoch angesehenen Museums auf Hochglanzpapier angefordert. Der Auftrag umfasst 1000 Exemplare. Die Anfrage landet zuerst beim Leiter der Druckerei. Dieser plant gewisse Mängelexemplare und kalkuliert 1100 Exemplare. Danach überlegt er sich, wie viele Kalender er braucht. Er schickt seine Endkalkulation von 1200 Exemplaren weiter an die Buchbinderei. Der Vorsteher nimmt ebenfalls 10% für Mängelexemplare und kommt auf 1320 Stück. Bei der Produktionsbesprechung melden sich der Chef der Papierschneider und der der Buchbinder zu Wort. Beide brauchen für sich und Ihre Mitarbeiter einen Teil der Auflage. So wird diese erhöht und geht mit einer Planstückzahl von1700 zurück zum Leiter der Druckerei.

Der Auftrag wird nun gestartet. Es werden 1700 Bögen gedruckt. Es gibt einen kleinen Ausschuss und die Anzahl Bögen die in die Binderei gehen beträgt 1650 Stück. Die Bögen werden beschnitten, zusammengelegt und gebunden. Am Ende sind 1550 Exemplare fertig geworden.

Noch vor der Beendigung des Auftrages lässt sich der Leiter 300 Stück nach oben bringen. Am selben Abend wird der Auftrag zum Versand fertig gemacht. Mit genau 1000 Stück. Zum Glück dieses Mal. Keines der anderen Exemplare ist irgendwo im Betrieb auffindbar.

Sie ahnen es sicher schon. Wenn ich 1700 Stück produzieren lasse und nur 1000 Stück verkaufe, kann das nicht aufgehen. Schon gar nicht, wenn eine ganze Wirtschaft genau so funktioniert. Ich halte mal dagegen, das selbst Erich Honecker  in einer Rede zur Steigerung der Leistung dazu aufrief: „Wir können noch viel mehr aus unseren Betrieben rausholen“ hat er gesagt. Auch mit dieser Information werden Sie sich fragen, wo all die Kalender verschwunden sind. Nun das ist ganz einfach. Folgendes gehört zum üblichen Prozedere eines Jeden, der entgegen der Propaganda nicht mit dem vor herrschenden Angebot zufrieden war: 10 Kalender hat mein Lieferant für Autoteile bekommen. 10 die Nachbarin drei Häuser weiter. Sie arbeitet im Konsum bei der HO. 10 weitere habe ich beim Bürgermeister abgegeben. Und die nächsten 10 dem Metzger. Warum das Ganze? An dieser Stelle lässt es sich nicht mehr leugnen. Die Rede ist vom ehemaligen Wirtschaftssystem der DDR. DDR? Sie wissen schon: Deutsche Demokratische Republik. Nein? Das ist so knapp der rechte Teil der heutigen BRD,

die sogenannten neuen Bundesländer,

der Osten.

Ahhh, ich sehe, das kennen Sie. Sehr schön. Nun, Produkte wie diese, die in „den Westen“ exportiert wurden, hatten den Wert einer eigenen Währung. Mit kleinen Geschenken wie diesen hat man seine „Freundschaften“ Aufrecht erhalten. Nicht weil die Nachbarin so schrecklich nett war. War sie nämlich gar nicht. Ganz im Gegenteil. Die Tatsache, dass sie es zu entscheiden hatte, wer heute mal Orangen bekommt, oder Äpfel  oder zum Beispiel frisches Sauerkraut, machte sie eher unleidlich. Es schien fast, als wäre sie die gestrafte. Wie könnte man nur von ihr verlangen, dass sie das bestimmen musste? Um ehrlich zu sein hatte man bei ihr oft den Eindruck, dass es eher daran lag, dass sie die Waren auch an andere abgeben musste.

Mein Autoteile- Händler dagegen war eher pflegeleicht. Wann immer man in den Laden kam, war es voll. Hinter der Theke zwei Angestellte. Dahinter sind Regale aufgebaut, die tief nach hinten rein führen. Die einzelnen Fächer sind nur teilweise befüllt. Der Ablauf ist ähnlich dem, was sie aus heute aus der Apotheke kennen. Man hat einen Zettel, mit dem man die vorbestellte Ware holen kann. Einziger Unterschied: das Datum auf dem Abholschein kann durchaus älter sein als ein Jahr. Ja, richtig, mehr als ein Jahr. Für Blinker, Lüfter oder auch mal Reifen. Das war Realität, wenn man nicht so wie ich heute, immer wieder mal eine kleine Aufmerksamkeit für den nicht mehr ganz jungen Herren hat. Solange ich so beladen komme, sieht er mich gern.

Autoreifen, ja das war noch ein spezielles Thema. In meiner Garage stapeln sich 3 Sets. Abgenutzt und fast nicht mehr brauchbar. Sie warten darauf, dass man sie zur Aufbereitung bringt. Nicht alle auf einmal, das geht natürlich nicht. Nein ab und zu vielleicht ein oder zwei. Und dort kann ich noch so viele Kalender vorbei bringen. Das wird nicht reichen. Hier bekomme ich unter Umständen einfach nur einen Reifen zurück, obwohl ich zwei abgegeben habe. Manchmal glaube ich,  für all die Kalender, Reifen und die anderen Dinge gibt es eine extra Autobahn, tief unter uns. Ich sehe es förmlich vor mir, wie sich mein Reifen und meine Kalender dort freundschaftlich begrüssen, bevor sie auf die Reise gehen. An den Auffahrten stehen kleine Häuschen in denen peinlich genau gezählt wird, wer was und wie oft dort los schickt.

Mit diesem Hintergrundwissen haben Sie nun sicher keine Mühe mehr, sich auch folgendes vor  zu stellen:

Jeden Mittwoch begann sich spätestens ab zwei Uhr nachmittags eine Schlange vor dem Metzger  zu bilden. Geöffnet wurde um drei. Jetzt denken Sie vielleicht, „Hey, da gab es sicher immer etwas Besonderes. Tolles Marketing!“ Ähm, nein. Das Besondere am Mittwoch war höchstens, dass es frische Sachen beim Metzger gab. Sie lesen richtig. „Frisches“ Nein, nein. An den anderen Tagen wurde nicht etwa schlechte Ware verkauft. Gott bewahre! Woher auch. Es gab einfach nicht genug, das war der Grund. Gut, dafür wurde nix verschwendet. Ab und an gab es sogar ganz tolle Sachen. Zum Beispiel Kuheuter. Gewürzt und paniert schmeckt es fast wie Schnitzel. Klopfen brauchte man es nicht mehr, DAS war von Haus aus dünn genug.

Zu Zeiten der blauen Kachel, als diese für mehr stand, als etwas bunter Keramik an der Wand. Sie haben es bestimmt schon mal irgendwo gelesen oder gehört.

Früher waren die Anzeigen der Tageszeitungen  gefüllt mit genau diesen Kacheln. Wenn sie schon immer mal Bonbonblaue kacheln wollten, das wäre genau die Gelegenheit gewesen. Denn genau die bekam mit ein wenig Glück gegen zum Beispiel richtig gute Kalender.  In den Anzeigen jedoch ging es um etwas anderes. Wer dort blaue Kacheln suchte oder anbot, der meinte Westgeld. Das gute alte Westgeld. Als die Mark noch richtig was wert war. Mit Westgeld in einen Intershop. Ein lang gehegter Traum. Man konnte doch einfach so im Interhotel mal schnell rein. Also ohne besagtes geld bleiben sie draussen und nehmen eine Nase voll dieses herrlichen Geruchs in sich auf. Immer mit einem schweifenden Blick. Nachher sieht der Falsche noch, wo man hier rumlungert.

Die blaue Kachel , ein Synonym für ein kleines bisschen Extra, für ein klein wenig mehr Luxus, leider oft genug nur Synonym für dringend benötigtes.


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